Theater Basel | Pique Dame
Eine musikalisch packende und atemberaubende Inszenierung, welche der spannenden Vielschichtigkeit der Oper voll gerecht wird.
Kritik:
Ein in mancherlei Hinsicht bewegender Abend auf und hinter der Bühne – das Theater Basel bewies einmal mehr, dass es zu den interessantesten Bühnen für Musiktheater gehört und die Auszeichnung „Opernhaus des Jahres“ verdientermassen zweimal in Folge erhalten durfte.
Doch der Reihe nach: Wenn sich kurz vor einer Vorstellung der Operndirektor ans Publikum wendet, bedeutet dies selten etwas Erfreuliches. So auch an der gestrigen Premiere von PIQUE DAME. Der Sänger des Hermann, Maxim Aksenov, hatte sich eine starke Erkältung zugezogen, traute sich aber trotzdem zu singen. Doch stellte sich bald heraus, dass dies weder ihm noch dem Publikum zuzumuten war. Deshalb wurde das Publikum nach dem ersten Bild in eine vorzeitige Pause geschickt, um die Ankunft von Vladimir Kuzmenko abzuwarten, welcher auf der Anreise aus Stuttgart war. Der ukrainische Tenor rettete den Abend – und wie! Seine Interpretation der schwierigen Partie des Hermann konnte man in den vergangenen Jahren u.a. in Wien, München, Barcelona und Zürich erleben. Die metallische Strahlkraft seines höhensicheren Tenors ist ungebrochen, seine musikalisch unglaublich nuanciert gestaltete Durchdringung des obsessiven Charakters Hermanns beeindruckend. Und da Maksim Aksenov sich bereit erklärt hatte, die Partie auf der Bühne darzustellen, während Kuzmenko von der Seite sang, kam es zu einer ungeahnten, spannenden Symbiose von Gesang und Darstellung. Regisseur David Hermann verlegte die Handlung von der Zeit Katharinas der Grossen in das St. Petersburg der Vorrevolution. (Die episodenhaften Szenen – Kinderchor, Gouvernante, Schäferspiel – wurden gestrichen.) Hermann ist ein schlaksiger, verunsicherter junger Mann, wahrscheinlich arbeitslos, fasziniert von den neuartigen Verlockungen der Grossstadt, verführbar, orientierungslos; er bewegt sich zwischen Nihilismus und der Faszination des Okkulten. Maxim Aksenov spielt diesen labilen Menschen mit geradezu unheimlicher Bühnenpräsenz – und da er den Gesang nur mimte, erhielt die Darstellung etwas Gepenstisches, was überaus gut zur Interpretation des Werks durch das Inszenierungsteam passte. Christof Hetzer hat eine aufwändige Konstruktion auf die Bühne des Theaters Basel gestellt. Mehrere mit schwarzen Schiebetüren schliessbare Kammern stellen die verschiedenen Schauplätze dar, ab dem vierten Bild schwebt das Schlafzimmer Lisas (welches sie mit der Gräfin teilt) auf unsicherem Fundament auf der offenen Bühne. Die letzte Szene, das alles entscheidende Kartenspiel, wird als eine Art schwarze Messe an einem gespenstischen Ort vollzogen; gespielt wir nicht mehr nur mit Karten, Hermann setzt am Ende Lisa als Pfand, Jeletzkij gewinnt sie und schneidet ihr die Kehle durch. Tödlich verletzt liegen Hermann und Lisa dann auf dem Spieltisch, während das zarte Liebesmotiv, diese wunderbare Kantilene der Klarinette und der Streicher nochmals erklingt. Starke Momente einer durchgängig bildstarken Inszenierung, ausgeführt von herausragenden Sängerdarstellern. Initiiert hat das diabolische Spiel der attraktive Graf Tomskij (hervorragend gesungen von Eung Kwan Lee), welcher mit seinen Verblendungsritualen Hermann in diese krankhaften Obsessionen drängt. Beim Chor der Promenierenden (souverän der Chor des Theaters Basel) ist ihm dies schon gelungen, sie erscheinen als uniforme, weissgekleidete Sektenanhänger, durch Halbmasken gesichtslos geworden, das Gewitter nichts anderes als eine Gehirnwäsche, welcher sich auch Hermann unterzieht. Spannend auch, wie der Regisseur die Figuren von Lisa, der Gräfin und Pauline deutet: Lisa und die Gräfin teilen sich Bett und Zimmer, sind in gegenseitiger Abhängigkeit und Hassliebe miteinander verbunden (im Programmheft wird dazu Elfriede Jelineks „Die Klavierspielerin“ zitiert). Hanna Schwarz stellt diese alterslose, auf die Jugend Lisas eifersüchtige „Gräfin“ mit beeindruckender Kraft dar und singt die Grétry-Arie in wunderschön weich fliessendem Piano. Svetlana Ignatovich begeistert als Lisa mit ihrem warm timbrierten, in allen Lagen bruchlos ansprechenden und doch so durchschlagskräftigen Sopran. Sie möchte sich aus der unerträglichen Abhängigkeit von ihrer Ersatzmutter befreien – und schafft es nicht. Pauline wird quasi als Alter Ego Lisas dargestellt, eine moderne junge Frau, ohne Bindung, welche ihren Weg geht. Valentina Kutzarovas herrlicher Mezzosopran harmoniert fantastisch mit Svetlana Ignatovichs aufblühendem Sopran im Duett des zweiten Bildes. Wunderschön singt Frau Kutzarova die anschliessende russische Romanze. Die ergreifendste Arie jedoch hat Tschaikowski für Lisas Verlobten Jeletzkij komponiert. Nikolay Borchev gestaltet sie mit belkanteskem und doch tief empfundenem Schmelz, mit einer wunderbar zarten, zu Tränen rührenden Melancholie in der Stimme. Auch das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Gabriel Feltz taucht ein in diese von einer unermesslichen Traurigkeit geprägte Grundstimmung. Tschaikowskis vielschichtige Komposition, welche die Weite der russischen Landschaft, die Trostlosigkeit, aber auch die Ruhelosigkeit bis hin zum Ungestümen so eindringlich evoziert, erklingt mit bewegender Inbrunst aus dem Graben.
Man wird gut daran tun, diese Produktion ein zweites Mal zu besuchen: Einerseits um Maxim Aksenov als Hermann zu erleben (denn die Zeugnisse seiner stimmlichen Fähigkeiten, welche er trotz der schwerwiegenden Indisposition im ersten Bild hören liess, waren viel versprechend!) und zweitens um die Komplexität der Inszenierung noch besser ergründen zu können.
Fazit:
Das Theater Basel zeigt Tschaikowsis Meisterwerk in einer musikalisch packenden, atemberaubenden Inszenierung, welche der spannenden Vielschichtigkeit der Oper voll gerecht wird.
Werk:
PIQUE DAME ist die vorletzte von Tschaikowskys zehn Opern. Entstanden ist die Komposition auf ein Libretto seines Bruders Modest während eines Aufenthalts in Florenz. Das Libretto weist gegenüber der Originalvorlage Puschkins einige Abweichungen auf: Bei Puschkin ist die Liebe Hermanns zu Lisa weniger vordergründig, die Obsession des Spiels steht da eindeutiger im Mittelpunkt, während es Hermann in der Oper auch darum geht, durch den Geldgewinn Zugang zu höheren Gesellschaftsschichten (und damit zu Lisa) zu erhalten. Bei Puschkin wählt Lisa ebenso wenig den Freitod wie Hermann, welcher in der Novelle im Irrenhaus endet. Zudem verlegten die Tschaikowskys die Handlung in die Zeit Katharinas der Grossen. Diese Verlagerung der Zeitebene wird zum Beispiel durch das Schäfer-Intermezzo im zweiten Akt unterstrichen, welches ganz im Stile Mozarts daherkommt (deutlich hörbar sind die Klavierkonzerte KV 466 und 503, sowie eine Passage Papagenos aus der ZAUBERFLÖTE). Die Gräfin summt beim Schlafengehen eine Arie aus Grétrys RICHARD LÖWENHERZ.
PIQUE DAME stellt den grossartigen Kulminationspunkt von Tschaikowskys musikdramatischem Schaffen dar: Die kunstvolle Verflechtung von Phantastischem, Lyrischem, Nationalem und Anklängen an die grosse französische Oper ist dem Komponisten in dieser vielschichtigen Oper meisterhaft gelungen.
Es wird vermutet, dass Tschaikowskys langjährige Mäzenin, die Baronin von Meck, die Figur der Gräfin zum Anlass genommen hat, Tschaikowsky den Geldhahn zuzudrehen. Sie war zunehmend von ihm, der seine Homosexualität stets zwanghaft unterdrücken musste, angewidert. Doch überlebte Frau von Meck den Komponisten nur um wenige Monate – das Motiv der Todesverkündigung für die Gräfin aus PIQUE DAME entfaltete seinen beunruhigenden Nachhall auch in der Realität ausserhalb der Opernbühne …
Inhalt:
Der deutschstämmige Offizier Hermann ist in Sankt Petersburg ein Fremder, fasziniert von den Verlockungen der Stadt, doch zurückhaltend und schüchtern. Er ist verliebt in Lisa, die Enkelin einer geheimnisvollen Gräfin. Aufgrund des Standesunterschieds und seiner bescheidenen Vermögensverhältnisse erscheint ihm eine Liaison mit Lisa unmöglich. Zudem ist Lisa mit dem Fürsten Jeletzkij verlobt. Graf Tomskij, ein Offizierskumpan Hermanns, enthüllt das Gemheimnis der Gräfin: Sie sie in ihren Jugendjahren ein wahrer Vamp gewesen, hätte dank eines Kartengeheimnisses einst ein riesiges Vermögen beim Kartenspiel erworben. Hermann ist von der Geschichte tief beeindruckt, steigert sich in eine wahrhaftige Obsession. Er MUSS der Gräfin das Geheimnis der drei Karten entlocken. Bei einem Maskenball gibt ihm Lisa den Schlüssel zu ihrem Zimmer, welches direkt neben der Schlafkammer ihrer Grossmutter liegt. Hermann bedroht die alte Gräfin mit einer Pistole, die alte Frau stirbt. Lisa weist Hermann zurück, da sie nun glaubt zu wissen, dass er nicht ihr ihretwegen gekommen sei. Bald darauf bereut Lisa aber ihr abweisendes Verhalten und gibt Hermann noch eine Chance. Aber die Obsession des Spiels ist stärker: Hermann vermeint den Geist der Gräfin zu hören, welcher ihm das Geheimnis zuflüstert: Drei, Sieben, As.
Hermann erscheint nicht zum Rendez-vous mit Lisa. Aus Verzweiflung stürzt sie sich in die Newa. Am Spieltisch gewinnt Hermann unterdessen mit der Drei und der Sieben. Die Spieler ziehen sich zurück, nur Fürst Jeletzkijspielt noch gegen Hermnann. Dieser setzt nun alles auf das As, doch als er die Karte aufdeckt, ist es die Pique Dame. Der Geist der Gräfin lacht höhnisch auf. Hermann, dem Wahnsinn nahe, ersticht sich. Im Sterben vermeint er Lisas Vergebung zu spüren.
Musikalische Höhepunkte:
Ya imyeni yeyo nye znayu, Hermann, Akt I
Odnazhdï v Versalye, Tomskij, Akt I
Uzh vecher, Lisa-Pauline, Akt I
Ya vas lyublyu, Jeletzkij, Akt II
Je crains de lui parler la nuit, Gräfin, Akt II
Akh! istomilas ya goryem, Lisa, Akt III
Shto nasha zhizn? Igra!, Hermann, Akt III
Für art-tv: Kaspar Sannemann, 11. Dezember 2010