Essayfilm | Gottlos Abendland
Felix Tissis letzte Zusammenarbeit mit dem grossen verstorbenen Produzenten Res Balzli. Eine filmische Suche - auf blasphemische Art gottesfürchtig.
EUROPA ist kein Ort, sondern eine Idee. EUROPA ist eine Frau. Eine Griechin. Ihre wirtschaftlichen Erfolge und historischen Verfehlungen haben zu ihrem moralischen Burn out geführt. Auf der Suche nach ihrer Identität reist sie als fiktive Person durch ihren eigenen Kontinent und wendet sich in ihrer Not an Gott. Doch der Alte antwortet nicht. Die Antworten liegen in den Fragen selbst, und Gott manifestiert sich im Erlebten.
Zum Film
Über Europa und unsere westlichen Werte wird heutzutage pausenlos debattiert. Politiker*innen und Journalis*innen können das. «Sein Handwerk hingegen sei die Fiktion», schlussfolgert Regisseur Felix Tissi: «Ich versuche, mit einem künstlerisch-subjektiven Ansatz, etwas zu diesem Diskurs beizutragen. Ich halte es für angebracht, dass sich auch die Kunst daran beteiligt. Denn sie kann dies mit eigenwilligem Blick tun.» Der Komplexität eines ganzen Kontinents gerecht zu werden, wäre dabei selbstverständlich vermessen. Dies kann nur in Annäherungen gelingen, wofür sich eine essayistische Form geradezu aufdrängt: Ein Essay erlaubt und braucht eine unkonventionelle Handschrift. «Mir schwebte ein Film in Form von Lyrik vor, und wir haben metaphorische, oft abstrahierte Bilder und Töne gesucht, welche sich mit der inneren Befindlichkeit des heutigen Europas assoziieren lassen», erklärt Tissi. «Gottlos Abendland» geht dabei nicht von einer vorgefassten Idee aus, in deren Dienst sich der Film zu stellen hat. Der Film entwickelt sich vielmehr aus sich selbst heraus: In Bildern, Tönen, Worten und Musik. Im Wechselspiel von Text und Bild will er sein Publikum zu eigenen Assoziationen anregen.
Europas Beziehung zu Gott
Das Wesen einer Kultur zeigt sich am deutlichsten in ihrer Gottesvorstellung. Diese Vorstellung schien Tissi auch für die europäische Gesellschaft signifikant, «denn durch die Trennung von Religion und Staat ist sie geprägt von steter Ambivalenz und moralischem Schwebezustand.» Andererseits gründe gerade auf dieser Trennung die europäische Erfolgsgeschichte: Die Wissenschaft konnte ungehindert aufblühen, die Technik, die Wirtschaft, die Kultur. «Als moralische Instanz gilt in Europa nicht das Göttliche, sondern die menschliche Vernunft. Dadurch ist Europa selbstbestimmt – aber auch ziemlich gottlos.»
Gut oder schlecht?
Und das Gebet? Es ist ein Eingeständnis unserer eigenen Ohnmacht und das Eingeständnis einer grösseren Wahrheit. Im Diesseits gefangen und trunken vom Glauben an seine Vernunft und deren Triumphe wird dem Menschen im Gebet wieder sein Platz zugewiesen. Immerhin. – «Im Dunst von Werteverlust und Endzeitszenarien über Klimawandel, Verteilungskämpfe um Ressourcen usw. werden wir das Beten vielleicht wieder lernen müssen», meint Felix Tissi. Beschwörungen, eine Besänftigung des Herzens oder Dankbarkeit für das Schicksal hat es seit jeher gegeben und wird es auch weiterhin geben. Es braucht ja nicht frömmlerisch zu sein. Gebet aus «Gottlos Abendland»: «Unser Vater im Himmel, vergib mir meine Schulden… – Nein, vergib sie mir nicht. Lass mich sie endlich begleichen!»