Interview | Stéphane Goël | De la cuisine au parlement. Édition 2021
Stéphane Goël im Gespräch über seinen archivarischen Film über den Kampf um das Frauenstimmrecht in der Schweiz.
Der Westschweizer Filmemacher Stéphane Goël zeichnet in seinem «De la cuisine au parlement. Édition 2021» die packende Geschichte des über 100-jährigen Kampfs für das Frauenstimmrecht in der Schweiz – mit einer grossen Menge an spannendem Archivmaterial und vielen bis in die Gegenwart kämpferischen Protagonistinnen – etwa die Parlamentarierin Gabrielle Nanchen, die erste Bundesrätin Elisabeth Kopp oder die Historikerin Brigitte Studer. arttv.ch spricht mit ihm über seinen Arbeitsprozess.
Woher stammt die Idee für «De la cuisine au parlement. Édition 2021»?
Die Idee dazu entstand bereits 2011 – als ich zu meinem Erstaunen erfuhr, dass SRF so rein gar nichts zum 40-Jahr-Jubiläum des Frauenstimmrechts in der Schweiz plante. Es gab ein paar Zeitungsartikel – aber keinen Film, keine Fernsehsendung. Im Gespräch mit Jugendlichen erfuhr ich zudem, dass nur wenige wussten, dass die Schweiz eines der letzten Länder dieser Erde war, die den Frauen das Stimmrecht gewährt hatten. Zudem befanden viele der befragten Jungen: Das ist doch Schnee von gestern! So vertiefte ich mich in Archive und Geschichtsbücher, um einer jungen Generation diesen unglaublichen Kampf, der mehr als ein Jahrhundert dauerte, zu erzählen. In Zusammenarbeit mit dem Westschweizer Fernsehen entstand so 2011 die erste Version von «De la cuisine au parlement».
Was ist neu an der «Édition 2021»?
Die erste Version endete mit dem Jahr 1990, als die Frauen in Appenzell AI endlich das Stimmrecht erhielten – auf Druck des Bundes, wohlgemerkt! Die «Édition 2021» wurde nun mit Gesprächen mit weiteren Protagonistinnen ergänzt: Ruth Dreifuss, Marina Carobbio oder Tamara Funiciello – als Vertreterin einer vierten Welle des Feminismus, die sich nebst Frauenrechten auch gegen sexuelle Ausbeutung und Diskriminierung jeder Art engagiert. Dazu kamen Themen, die die letzten 20 Jahre prägten: die Abstimmungen um die Fristenregelung von 2002 oder die Mutterschaftsversicherung von 2005. Zudem konnte der grosse Frauenstreik von 2019 mitintegriert werden.
Sie sind in Lausanne geboren – im Kanton Waadt, der als erster Schweizer Kanton 1957 das Frauenstimmrecht einführte…
In der Tat hatten die lateinischen und protestantischen Kantone wie Waadt, Neuenburg und Genf die Nase bei der Stimmrechtsbewegung vorn. Und auch die Frauenrechtsbewegungen waren hier seit Mitte des 19. Jahrhunderts sehr aktiv – mit Pionierinnen wie Emilie Gourd und Antoinette Quinche.
Sie waren 1971 sechs Jahre alt, als das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene eingeführt wurde. Haben Sie Erinnerungen daran?
Ich stamme aus einer Bauernfamilie und erinnere mich an die Reaktionen meiner Mutter und der andern Frauen. Sie gingen nach der Abstimmung alle ins Bistro des Dorfs – an einen Ort, der sonst nur Männern vorbehalten war. Eine absolute Premiere! Und ich erinnere mich an den Widerstand all der Neinsager aus der Innerschweiz – für Menschen meiner Generation eine absolute Schande!
Sie verwenden eine riesige Menge an spannendem Archivmaterial – woher stammt dieses?
Vor allem aus den Filmarchiven des Schweizer Fernsehens, aber auch von der Cinémathèque Suisse und der Gosteli-Stiftung – alles eigentliche Goldminen diesbezüglich.
Ihr Film zeigt auf, dass die Schweiz eines der wenigen Länder (wenn nicht das einzige überhaupt) ist, das das Frauenstimmrecht mittels Volksabstimmung einführte. Ist Ihre Recherche nicht zuletzt auch ein Kapitel Mentalitätsgeschichte?
Der Kampf um das Frauenstimmrecht war Anlass für mehr als 80 Abstimmungen zwischen 1919 und 1990 (auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene) – und das mit Plakaten, Zeitungsartikeln, Demos und Gesprächen. Wir sind wahrscheinlich das einzige Land auf der Welt, das über eine so präzise Bestandesaufnahme dieser Zeitspanne während des Frauenrechtskampfs geht, in dem Patriarchat und Ungleichheit herrschten. Nicht zuletzt äussert sich darin auch die aussergewöhnliche Langsamkeit sozialer Reformen, wenn das Volk sich dazu äussern kann. Und besonders die Männer. Die Frauen haben einen hohen Preis bezahlt für die direkte Demokratie! Nicht nur, was die Bürgerrechte angeht. So brauchte es nicht weniger als 60 Jahre für die Mutterschaftsversicherung, nicht weniger als 40 Jahre für eine Reform des Eherechts und nicht weniger als 30 Jahre für die Fristenregelung!
Nach welchen Kriterien wählten Sie die Zeitzeuginnen aus, die in Ihrem Film zu Wort kommen? Gab es Persönlichkeiten, die abgelehnt haben aufzutreten?
Es sind ausschliesslich Frauen, die zum Kampf und zur Bewegung zu Wort kommen – und zwar solche, die aktiv um die Gleichstellung kämpften. Vor zehn Jahren konnten wir noch Kämpferinnen wie Marthe Gosteli oder Amélia Christinat befragen, die in der Zwischenzeit leider verstorben sind. Mein Problem war vielmehr, nicht mehr Protagonistinnen im Film unterbringen zu können – das wäre sonst auf Kosten der Redezeit gegangen. Und natürlich wäre es mein Traum gewesen, auch Suffragetten aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert interviewen zu können.
Gab es eine Inspiration für Ihren Film, etwa den dreistündigen Film über den Frauenstimmrechtskampf von Tula Roy und Christoph Wirsing, «Eine andere Geschichte» (1993), der in Solothurn ebenfalls zu sehen ist?
Für mich war es hauptsächlich «Das Bild der Frau in der Schweizer Filmwochenschau» (1980) von Lucienne Lanaz, Anne Cuneo, Erich Liebi und Urs Bolliger, den ich als Gymnasiast in Lausanne gesehen habe und der in Solothurn dieses Jahr glücklicherweise wiederaufgeführt wird.
Wissen Sie von anderen aktuellen Filmprojekten von Frauen zum Thema?
Zurzeit beschäftigen sich viele Filmprojekte von Filmemacher*innen mit der Genderfrage. Ich selbst habe etwa den Film «Les dames» von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond vor drei Jahren produziert und produziere aktuell den Film «Garçonnière», in dem die junge Filmemacherin Céline Perne das Thema Männlichkeit(en) auslotet. Zudem hat sich einiges seit 2011 geändert: 2021 gibt es mehrere Filme, ein grosses digitales Projekt seitens SRF, Ausstellungen in Bern, Zürich und Lausanne, zahlreiche Buchveröffentlichungen. Die #MeToo-Bewegung ebenso wie der Frauen*streik haben zusätzlich Schub gegeben. Darüber bin ich persönlich sehr glücklich.
Sie sind als Filmemacher und Produzent Mitglied von Climage in Lausanne. Können Sie uns etwas mehr über dieses Kollektiv erzählen?
Eine lange Geschichte – 35 Jahre! Es begann als Zusammenschluss von Filmschaffenden und Underground-Experimentalfilmen in den 80ern. In der Folge spezialisierten wir uns auf den Dokumentarfilm und produzierten Filme – fürs Fernsehen, für Kino und Festivals. Wir arbeiteten bis 2015 als Kollektiv, sind nun aber eine eigentliche Produktionsgesellschaft und produzieren auch Filme anderer Filmemacher*innen. Doch haben wir uns bis heute eine Praxis bewahrt, die vom Kollektiv geprägt ist, und natürlich vom Engagement für den Film.
Ein Interview von Doris Senn