Interview | Ulrike Ottinger
Die 1942 in Konstanz geborene Fotografin und Regisseurin ist eine Pionierin des queeren Filmschaffens.
Mit ihren experimentellen Filmen, die ab den 70ern entstanden und oft Theater, Kunst, Musik, Dokumentarisches und Fiktion vereinen, schuf Ulrike Ottinger ein beeindruckendes Œuvre aus bislang 25 Titeln, das noch immer weiterwächst. Für ihre Verdienste wird sie nun am 15. Mai 2021 im Filmpodium Zürich mit dem Pink Apple Festival Award geehrt. arttv Filmjournalistin Doris Senn hat sich mit der Preisträgerin über ihre Verdienste im schwullesbischen+ Filmschaffen unterhalten.
Vor rund einem Jahr präsentierten Sie in Berlin Ihr jüngstes, autobiografisches, Werk, «Paris Calligrammes» – über Ihre künstlerischen Anfänge im Paris der 60er-Jahre. Und: Sie wurden mit der Berlinale Kamera ausgezeichnet. Dann kam der Lockdown. Wie verbrachten Sie die Zeit seither?
Nun ja. Es gab ja verschiedene Lockdowns: in Deutschland, Frankreich, den USA… Überall dort hätte «Paris Calligrammes» an Festivals gezeigt und in den Kinos starten sollen. Aber nachdem ich zehn Tage mit dem Film mit wunderbarer Presse durch die deutschen Städte gereist war, kam der Lockdown. Da es für mich in der Folge auch keinen Sinn machte, in Berlin zu bleiben, und ich das grosse Glück habe, am Bodensee noch das Haus meiner Eltern zu haben, arbeitete ich seither hier in Hegne – mit kurzen Stippvisiten in Berlin.
Arbeiten Sie an einem nächsten Film?
Ich arbeitete an einem Drehbuch, habe dies aber zurückgestellt, weil ich dann noch den Kunstpreis von Baden-Württemberg erhielt. Dazu soll es zwei grosse Ausstellungen geben – etwa in der Baden-Badener Kunsthalle, die ja ein «Riesendampfer» ist und entsprechend anspruchsvoll für die Konzeption. Und dann ist es so: In meinem Alter hat man ein Œuvre, und da gibt es – man kann sich das gar nicht vorstellen! – unzählige Festivals und entsprechend viele Videokonferenzen oder Zoom-Publikumsgespräche. Und das ist zurzeit einfach unendlich viel, dass gar keine Zeit bleibt. Zudem: Ich besitze rund 200 Zeichnungen der letztjährig verstorbenen Tabea Blumenschein [zehn Jahre lang Partnerin von Ulrike Ottinger und Protagonistin in «Madame X», «Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse» und «Bildnis einer Trinkerin», Anm. d. Red.] und schenke diese der Berlinischen Galerie, die sie zusammen mit Fotografien, die ich von Tabea gemacht habe – Hunderte und Hunderte gestalteter Bilder –, im nächsten Jahr ausstellen will. Daraus soll es einen Katalog geben… Sie sehen, ich war in dieser Zeit mehr als beschäftigt und bin es noch. [schmunzelt]
Sie sind nicht nur eine Pionierin des queeren Filmschaffens, sondern haben auch einen avantgardistischen Umgang mit Fiktion und Nicht-Fiktion. In Ihrem Film «Johanna d’Arc of Mongolia» etwa lassen Sie Schauspielerinnen in einen Dialog mit mongolischen Reiterinnen treten. Wie stehen Sie zur aktuell diskutierten «Reality in Fiction» – etwa im Oscar-prämierten «Nomadland»?
Ein hochinteressanter Film und ein hochinteressantes Thema! Der Beginn von «Johanna d’Arc of Mongolia», im einführenden Off-Monolog spricht Lady Windermere [von Delphine Seyrig gespielt, Anm. der Red.] ja genau darüber, was passiert, wenn unsere Vorstellungen von einer anderen Kultur auf die Realität treffen. Kann sich die Fantasie mit der Realität verbünden? Stossen sie sich ab? Verändern sie sich durch die Begegnung? Tauschen sie die Rollen? Der Film möchte nicht zuletzt einen Dialog mit der Geschichte anregen – auch etwa durch die Gemälde in der Transsibirischen Eisenbahn. Und wie es zur Zeit von Louis XIV Mode war, chinesische Kostüme zu tragen und Tee zu trinken, war es in der mongolischen Qing-Dynastie angesagt, westliche Kleidung anzuziehen. Es gab also schon immer ein Spiel mit anderen Identitäten, auch kulturell, und in beide Richtungen. Eine Globalisierung ante litteram.
Vielleicht noch ein paar Worte zur Entstehung von «Paris Calligrammes», der als Schweizer Premiere im Award-Programm des Filmpodiums zu sehen ist?
Mir ist im Laufe der Jahre immer klarer geworden, wie wichtig diese Zeit im Paris der 60er-Jahre bezüglich Kultur, aber auch Gesellschaftspolitik für mich und den Beginn meines Schaffens war: die Begegnung mit den Menschen in der Buchhandlung «Calligrammes», die künstlerisch-ästhetisch, aber auch politisch sehr wach waren. Nicht zuletzt auf diese frühen Einflüsse und teils auch zufällige Begegnungen geht die starke «Reichhaltigkeit» meiner Bilder zurück, auf die ich bei Publikumsgesprächen zu meinen Filmen oft angesprochen werde. Das ist mir zunehmend bewusst geworden und hat letztlich den Anstoss für den Film gegeben.
Interview: Doris Senn