Manöverkritik | Solothurner Filmtage
- Publiziert am 19. Februar 2021
Solothurn als Role Model: Nimm mich! Schau mich! Lieb mich!
Die Solothurner Filmtage sind Geschichte und man könnte es eigentlich dabei belassen, wenn Festivaldirektorin Anita Hugi mit ihrer Home Edition nicht ein perfektes Online-Festival geschaffen hätte, das eine besondere Würdigung verdient. Corona sei Dank wurden Prozesse beschleunigt, die hoffentlich auch nach Abklingen der Pandemie Bestand haben. Es deutet alles darauf hin: Die Solothurner Filmtage werden gestärkt aus der Krise hervorgehen.
Die Ausgabe 2021 in Zahlen
29’815 Online-Filmvorstellungen wurden gestreamt und die neue Website der Solothurner Filmtage, die als digitales Festivalzentrum diente, verzeichnete während der Filmtage insgesamt 90’183 Besucher*innen und über 850’000 Page Views. Der Eröffnungsfilm «Atlas» von Niccolò Castelli erreichte auf den drei Landessendern SRF 2, RSI LA 2 und RTS 2 mehr als 95’000 Zuschauer*innen. Felix Gutzwiller, Präsident der Solothurner Filmtage: «Die Home Edition wird in der langen Geschichte der Solothurner Filmtage einen besonderen Platz einnehmen.»
Corona als Demokratiebeschleuniger
Eine Festivaldirektorin, ein Festivaldirektor müssen begeistern, motivieren, mitreissen, überzeugen. Diese Fähigkeiten scheint Anita Hugi zu besitzen. Für ihre Online-Ausgabe der Solothurner Filmtage haben sie und ihr Team bemerkenswerte Kräfte freigesetzt. Ein besonderer Schachzug war zweifellos die Tatsache, dass der Eröffnungsfilm «Atlas» von Niccolò Castelli landesweit im Schweizer Fernsehen gezeigt wurde. Ein echter Schritt in Richtung Demokratisierung. Denn normalerweise sind es nur eine Hundertschaft von geladenen Gästen, die in der Solothurner Reithalle der Eröffnung beiwohnen dürfen (Im vielleicht schönsten Indoor-Kino-Saal der Schweiz, outdoor ist es natürlich die Piazza Grande). Und auch wenn wir uns darauf freuen, nächstes Jahr wieder live dabei sein zu können, punktete die Online-Ausgabe mit vielen Vorteilen. Die Möglichkeit, alle Filme unabhängig von Zeit und Ort zu streamen, ist nicht nur praktisch, sondern ein weiterer Akt der Demokratisierung. Nicht jeder hat die Zeit und das Geld nach Solothurn zu kommen.
Rar ist kostbar
Gerade für eine Veranstaltung wie die Solothurner Filmtage – die wesentlich von Fördergeldern des Bundes profitiert und Filme zeigt, die oft schon in der Entstehung vom Bund mitfinanziert wurden – ist ein möglichst einfacher und breiter Zugang für das Publikum gerechtfertigt. Trotzdem war es ein geschickter Schachzug der Festivalleitung, das Streaming der Filme auf drei Tage zu beschränken. In einer Zeit, in der wir von digitalen Angeboten überschwemmt werden, besteht die Gefahr, dass wir das Schauen eines Films sonst immer weiter nach hinten schieben, bis er ganz vergessen geht. Die zeitliche Einschränkung mag einer von vielen Faktoren sein, warum es Hugi und ihrem Team gelungen ist, ein lebendiges Online-Festival anzubieten, bei dem trotz der Pandemie richtige Festivalstimmung aufgekommen ist.
Erlebnis Film-Talks
Einen echten Mehrwert brachten der Home Edition 2021 die vielen gestreamten Film-Talks. Diese wurden professionell moderiert und präsentierten sich in einer gelungenen Studio-Szenografie. Die Solothurner Filmtage haben hier einmal mehr bewiesen, dass sie auch gestalterisch unter den einheimischen Festivals eine Sonderposition einnehmen. Solothurn ist seit seinem Bestehen eine Visitenkarte bester Schweizer Grafik (siehe dazu unser Sonderheft, das wir vor drei Jahren publizierten mit den Plakaten aller Festivaljahre). Natürlich sind Q&As (Frage und Antwort) bei allen Festivals Standard. Diese sind aber oft laienhaft moderiert (Seitenhieb ZFF) und wirken gehetzt, da bald schon der kommende Film im Kinosaal anläuft oder weil man selber bereits zur nächsten «Bonne Projektion» stressen muss. Wesentlich entspannter und qualitativ viel ergiebiger waren da die Online-Talks dieses Jahr in Solothurn. Alle Filmgespräche sind aktuell auf der Website der Filmtage in der Rubrik «Events & Veranstaltungen» zu finden und werden, da wo ein Filmstart ansteht, den Kino-Release der Filme begleiten.
And the Winner is…
Eine andere grossartige Neuerung der Filmtage 2021 war die Möglichkeit, alle Siegerfilme der jeweiligen Sektionen am Ende des Festivals noch drei Tage lang «nachschauen» zu können. 2021 übrigens ein Triumph der Frauen, alle drei Gewinnerfilme sind von Regisseurinnen (Artikel dazu auf arttv.ch). Als langjähriger Festivalbesucher kennt man den Frust, wenn man genau jene Filme verpasst hat, über die am Ende alle sprechen. Das ist besonders dann ärgerlich, wenn es sich dabei um Produktionen handelt, die keinen Verleiher finden und nicht im offiziellen Kinoprogramm auftauchen. Meist sind es bemerkenswerte, einzigartige Filme, die aber für ein breites Publikum zu sperrig sind und darum keinen kommerziellen Erfolg versprechen. Die Solothurner Filmtage leisteten so also auch einen Beitrag zur Filmvermittlung.
Klitzekleine Kratzer
Fazit: Die Notlösung der Solothurner Filmtage 2021 als Home Edition wurde zum ganz grossen Kino. Das berühmte Haar in der Suppe findet man natürlich trotzdem. So muss wesentlich klarer auf die Möglichkeiten hingewiesen werden, dass man bei den Filmen Untertitel zuschalten kann. Das Abstimmen für den «Prix du Public» war etwas kompliziert und der Play-Button zum Film-Streaming müsste leichter erkennbar sein. Denn es darf einen richtiggehend anschreien: Nimm mich! Schau mich! Lieb mich! Die überdurchschnittlich guten Schweizer Filme der diesjährigen Ausgabe haben es verdient.
Felix Schenker