Pay Streaming | Im Spiegel
Wofür werden wir geschätzt: Für das, was wir leisten und besitzen, oder für das, was wir sind? Ein Blick auf die Gesellschaft von ihren Rändern.
Obdachlose Menschen wagen den Blick in den Spiegel. Im mobilen Coiffeursalon von Anna Tschannen begegnen sie ihrem verletzlichen Selbstbild. Während Anna ihr Gesicht zum Vorschein bringt, erzählen sie von ihrem Leben und von ihrem Ringen um Autonomie und Würde.
Zum Film
Haare wachsen immer, auch wenn man unter einer Brücke schläft. Die Basler Coiffeuse Anna Tschannen schneidet sie obdachlosen Frauen und Männern für fünf Franken. In einem hellen Zimmer mit grossem Spiegel beobachten sie Anna bei ihrer Arbeit. Sie führt sie sorgfältig und bedächtig aus, gerade so, als wollte sie ihren Kundinnen genügend Zeit zum Erzählen geben. Ramon Gigers Kamera begleitet Markus, Aarold, Urs und Lilian in ihrem Leben ausserhalb des Salons. Immer sind sie unterwegs, niemals zu Hause. Sorgfältig komponierte Tableaus zeigen in Variationen das immer gleiche Bild: Menschenströme, die an den wartenden Obdachlosen vorbeiziehen, ohne innezuhalten, als sähe man sie nicht, als gäbe es sie nicht.
«Mich interessierte der andere Blick», so erklärt Regisseur Matthias Affolter. «Menschen, die aus den Strukturen des Systems gefallen sind, blicken von aussen auf die Gesellschaft, während wir oft aus einer inneren Distanz auf sie blicken.» Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, und die Scham, in einer solchen Situation zu sein, präge das Leben von armutsbetroffenen Menschen oft mehr als der materielle Mangel. Es sei dieser Aspekt der Armut, den ihn als Regisseur interessiert habe: «Ausgeschlossen von den Verheissungen der Leistungsgesellschaft sind sie gezwungen, jenseits der Leitbilder von Besitz und Erfolg nach Halt und Orientierung zu suchen. Wenn es ihnen gelingt, ihren Geschichten einen Sinn und eine Bedeutung zu geben, werden sie zu Experten für Lebenswerte abseits der gängigen Ideen.»
Stimmen
«Matthias Affolters Film vermittelt eine Perspektive, die wir normalerweise meiden, auf eine eingängliche Weise. Wir verstehen, dass das Schicksal von Urs, Aarold, Markus oder Liliane auch das unsrige sein könnte. Die Geschichten verdeutlichen, es braucht wenig, um zu straucheln.» – Eva Meienberg, Religionswissenschaftlerin und Redaktorin Medientipp | «Der Film und seine Macher*innen tragen Sorge zu ihren Protagonist*innen und geben deren Bedürfnissen genügend Raum. Dies alles verdeutlicht sich in Momenten, in denen Tschannen beispielsweise liebevoll und routiniert zugleich mit den Fingern durch die langen Haare ihrer Kund*innen fährt – eine irritierend intime Geste. Schliesslich überführt sie uns, genau wie die Dame mit Koffer, der Vorurteile gegenüber Obdachlosen.» – Katja Zellweger, Filmbulletin