Lesen | Simone Meier | Kuss
- Publiziert am 27. Februar 2019
Banalitäten treffen auf Abgründe und Liebesfantasien auf harte Realität. Eine gelungene literarische Studie über die Dinge hinter den Dingen.
Die Sprache der Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Simone Meier hat etwas Sehnsüchtiges, Tiefes, Melancholisches und doch wieder erfrischend Beiläufiges. So ganz richtig lässt sich das alles nicht einordnen. TV-Trash-Sendungen in Nachmittagsfernsehen treffen in ihrer Geschichte auf Gewaltphantasien und kurze, prägnante Sätze, die man sich am liebsten auf die Haut tätowieren möchte. Wie auch immer: «Kuss» ist Spitze.
Zehrende Sehnsucht
«Kuss» ist Simone Meiers dritter Roman. Vor fast 20 Jahren erschien unter dem Titel «Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben» bei Hoffmann und Campe ihr Erstlingswerk. Es war Meiers fiktionalisierte Hommage an ihre Grossmutter, die es in den 30er-Jahren kurzzeitig von der Fabriknäherin zum Mannequin schaffte. Ein Buch voller «zehrender Sehnsucht» wie ein deutsches Magazin damals schrieb. 2017 folgte das zweite Werk der Autorin, «Fleisch». Ein Roman über Menschen, «die gerne Fleisch essen und Sex haben». Meier schreibt darin offen über homosexuelle Beziehungen und jagt den männlichen Protagonisten lustvoll ins Verderben. Das Sehnsüchtige aber bleibt, genau so wie jetzt in ihrer dritten Geschichte in Buchform «Kuss». Hier ist es vor allem Gerda, die die Leser*in in Gedanken hin und her schwanken lässt, zwischen dem Wunsch nach Aufbruch und sicherer Genügsamkeit. «Ich gehör’ mit ganzem Herzen dahin, wo ich nicht bin» singt der deutsche Sänger Andreas Burani in einem seiner Lieder. So funktioniert irgendwie auch Meiers neuer Roman. Ein «noch Da» und «doch schon Weg» und dann «doch wieder da». Nur nicht auf drei Minuten Liedtext eingedampft, sondern als richtiges Buch. Ein Lesevergnügen, eine Beziehungsanalyse mit starken Textpassagen und Beobachtungen, die ganz aus unserer digitalisierten Zeit heraus gedacht werden und trotzdem universell und zeitlos bleiben.
Zur Geschichte
Gerda und Yann sind urbane Thirtysomethings und gerade in ein heruntergekommenes altes Haus am Stadtrand gezogen. Gerda ist arbeitslos, investiert ihre ganze Energie ins Einrichten – und in eine fixe Idee: Sie leistet sich eine imaginäre Affäre. Diese ist erst nur ein Spiel, doch dann beginnt sie, Gerda mit aller Macht zu verzehren. Yann lernt ein rätselhaftes Mädchen voller Forderungen kennen. Und die Nachbarin Valerie, Anfang fünfzig und Journalistin, steht nach einem folgenreichen One-Night-Stand plötzlich vor der Frage, ob das Leben für sie ausgerechnet jetzt noch einmal neu beginnt. Von drei möglichen Liebesgeschichten finden mindestens eineinhalb nur in der Fantasie statt. Doch dann kommt alles zusammen, und aus einem Zufall wird ein Unfall. Mit schonungslosem Blick, Witz und Melancholie seziert Simone Meier den schönen Schein moderner Existenzen und Beziehungen, bis nicht mehr nur die Fassaden bröckeln, sondern das ganze Fundament zu beben beginnt.
Die Autorin
Simone Meier, geboren 1970 in Lausanne, ist Autorin und Journalistin – früher bei der »Wochenzeitung« und beim »Tages-Anzeiger«, heute bei »watson« – in Zürich. Sie hat diverse Preise und Stipendien gewonnen. Simone Meier lebt glücklich von Liebe, Fleisch und Fernsehen. Und vom Schreiben. Zusammen mit Sibylle Berg und Margarete Stokowski lancierte sie den Frauenbildungskanon «Die Kanon».
Zitat
«Das ist kein gesellschaftskritisches Buch. Ich arbeite in einem Umfeld mit vielen jungen Menschen und klar beobachte ich sehr viel Unsicherheiten und Sehnsucht danach, eine Familie zu gründen. Man lebt viel länger zu Hause, für mich unvorstellbar, für sie absolute Normalität, sie fühlen sich wohl so, ich finde das etwas konservativ. Aber vielleicht ist es eine gute Überlebensstrategie, denn die Welt ist schrecklich. Sicher mache ich gesellschaftskritische Beobachtungen, aber es ist nicht der Grundtenor des Buches. Mir ging es um die sehr fragilen Möglichkeiten der Verschiebung von Sehnsucht und Begehren im realen wie auch virtuellen Raum, wie sich das überlagert. Wenn sich die anderen Fragen stellen, umso besser. » Simone Meier auf die Frage von Shantala Hummler, ob «Kuss» einen gesellschaftskritischer Impetus hat. (ganzes Interview, siehe Link)