Herr Bachmann und seine Klasse
Ein ergreifendes Portrait eines engagierten Lehrers und seinen Schüler*innen
Er war eine Sensation an der Berlinale 2021: Maria Speths dreieinhalbstündiger Dokumentarfilm «Herr Bachmann und seine Klasse» gewann den Silbernen Bären – und er erhielt drei Monate später, im Juni bei der Publikums-Berlinale, auch noch den erstmals vergebenen Publikumspreis. arttv.ch hat Regisseurin Maria Speth und Reinhold Vorschneider, ihren Kameramann und Partner, im Rahmen des Zurich Film Festivals für ein Gespräch über ihren Erfolgsfilm getroffen.
Maria Speth zeigt in ihrem rein beobachtenden Film den Alltag einer sechsten Klasse an der Georg-Büchner-Gesamtschule in der hessischen Industriestadt Stadtallendorf. Die Klasse des Lehrers Dieter Bachmann besteht aus 19 Schüler*innen, sie sind zwischen 12 und 14 Jahren alt, die meisten stammen aus Migrantenfamilien. Dieter Bachmann, den man mit seinem AC/DC-Shirt über einem Kapuzenpulli und seiner Mütze auf dem Kopf nicht unbedingt als Lehrer identifizieren würde, steht kurz vor seiner Pensionierung und er begeistert seine Schützlinge durch seinen unkonventionellen Unterrichtsstil. Musik, Bewegung und soziale Interaktion stellen dabei neben dem Lernstoff die zentralen Elemente dar. Und die besondere Beziehung zwischen Lehrer und Schüler*innen charakterisiert im Film jemand einmal so: «Die Kinder haben ihm gezeigt, welche Art von Lehrer sie brauchen».
Interview mit Maria Speth und Reinhold Vorschneider
«Herr Bachmann und seine Klasse» erlaubt uns einen sehr nahen, ja fast schon intimen Einblick in den Unterrichtsstil, aber auch in die Persönlichkeit von Dieter Bachmann. Wie haben Sie diese Vertrauensbasis erreicht?
Maria Speth: Ich kenne Dieter Bachmann schon sehr lange. Aber noch viel länger kennt ihn mein Partner und Kamaramann Reinhold Vorschneider. Ich glaube, er kann diese Frage deshalb besser beantworten.
Reinhold Vorschneider: Dieter und ich sind im gleichen Alter, Jahrgang 1952 und 1951, und wir lernten uns in den wilden 1968er-Jahren an der Uni in Berlin kennen und wir wohnten während vieler Jahre zusammen in der gleichen WG. Seither sind wir Freunde geblieben, auch wenn sich später unsere Wege trennten, ich als Kameramann, er als Künstler, Musiker und Lehrer, der schliesslich von Berlin wegzog, weil er die Grossstadt als zu belastend empfand. Als er dann – vor mittlerweile 17 Jahren – die Stelle in Stadtallendorf annahm, hat er uns immer wieder von diesem Ort erzählt und er fand, wir sollten uns diese Schule doch mal ansehen. So, jetzt habe ich aber genug erzählt (lacht).
Dann kann man also sagen: Herr Bachmann hat Sie gesucht und nicht umgekehrt?
Maria Speth: Nun, das ist sicher zu sehr vereinfacht… Am Anfang stand unser Interesse. Und vor allem interessierte uns die Geschichte von Stadtallendorf. Dieter Bachmann hatte uns erzählt, dass die Nazis dort während des Krieges die grössten Sprengstofffabriken Europas betrieben und dafür ein riesiges Lager für Zwangsarbeitende errichtet hatten – und weil diese Produktionsstätten im Krieg kaum zerstört wurden, haben sich in den 50 Jahren nach dem Krieg neue Industriebetriebe angesiedelt und so kamen zurzeit des Wirtschaftswunders die ersten Gastarbeiter, weil es eben viele Industriearbeitsplätze gab. Man kann sagen, dass sich jede Migrationsbewegung der letzten Jahrzehnte in Stadtallendorf abgebildet hat. Meine erste Idee war, einen Dokumentarfilm mit Jugendlichen zu realisieren, der um die Frage kreist: Wie ist es, wenn sich junge Menschen aus unterschiedlichen Kulturen an so einem Ort zum ersten Mal verlieben?
Das Projekt liess sich dann aber nicht realisieren. Warum?
Es scheiterte schlicht an der Finanzierung durch die Fördergremien und nicht etwa, weil sich die Jugendlichen oder deren Eltern dagegengestellt hätten. Wir recherchierten lange für dieses Projekt mit dem Arbeitstitel «Stadtallendorf». Als klar wurde, dass wir es so nicht verwirklichen konnten, hatten wir schon sehr viel Zeit an der Georg-Büchner Gesamtschule verbracht, wo fast 900 Kinder und Jugendliche von etwa 90 Lehrpersonen unterrichtet werden. Herr Bachmann war damals bereits Teil des Projekts und so verschob sich der Fokus zuerst mehr auf den Schulalltag der 6 Klassen und schliesslich auf die Klasse von Herrn Bachmann. Wir hatten während dieser ganzen Zeit auch immer einen guten Kontakt zur Schulleitung. Denn ohne sie wäre das alles ohnehin nie möglich gewesen. Dabei ist der Schulleiter der Georg-Büchner-Gesamtschule eine ganz andere Persönlichkeit als Dieter Bachman, aber er ist einer, der ihn machen lässt und der ihn stets gegen Kritik aus den Reihen anderer Lehrer – die es durchaus gibt – verteidigt.
Nicht nur die Schulleitung, sondern auch die Schüler*innen – und vor allem deren Eltern – mussten einverstanden sein mit Ihrem Projekt. Wie schafften Sie das?
Wir haben erst mal sehr viel Zeit mit den Kindern verbracht, ohne sie zu filmen. Haben mit ihnen musiziert oder auch gemeinsam gegessen und viel geredet. So lernten wir uns immer besser kennen und als wir dann schliesslich gedreht haben, haben sie uns schon gar nicht mehr als Fremdkörper wahrgenommen und auch die Eltern waren schnell einverstanden. Gefilmt haben wir von Januar bis Juni 2017 während etwa 30 Drehtagen. Am Ende hatten wir 200 Stunden Material.
Wie macht man daraus einen dreieinhalbstündigen Kinofilm?
Wir sind jetzt im Jahr 2021 und gedreht haben wir 2017. Das heisst, ich habe über drei Jahre mit der Montage verbracht. Sehr viel länger als mit jedem anderen Film und als ursprünglich geplant war.
Am Ende des Films steht das leere Klassenzimmer. Dieter Bachmann ist pensioniert, die Kinder gehen auf andere Schulen. Was macht er heute und was machen die Jugendlichen?
Reinhold Vorschneider: Dieter Bachmann verwaltet heute sein Erbe (lacht).
Maria Speth: Nein, auch wenn es im Film vielleicht so aussehen mag, dass er durch den Ruhestand in ein Loch fallen würde: Es ist nicht so. Er ist einer, der nach wie vor sehr aktiv ist, er hat seine früheren Tätigkeiten als Musiker und Bildhauer wieder aufgenommen und er geht darin voll auf. Was die Kinder anbelangt, sie sind heute junge Erwachsene. Ich hatte während der vergangenen vier Jahre – in der Zeit, in der ich den Film fertiggestellt habe, mit ihnen keinen Kontakt und auch mit Dieter Bachmann gab es nur sporadische Telefonate. Ich war auf jeden Fall sehr begeistert davon, wie die Jugendlichen sich entwickelt haben. Und ich habe mich sehr gefreut, als ich alle zur Kinovorpremiere Ende Mai in Marburg (in der Nähe von Stadtallendorf) wiedergetroffen habe. Fast alle sind gekommen. 10 der 19 Schülerinnen haben den Sprung ins Gymnasium geschafft und auch die andern haben soviel ich weiss – mit Ausnahme von Stefi, die mit ihrer Familie zurück nach Bulgarien musste – eine Lehrstelle gefunden und stehen nun schon mitten im Berufsleben. Sie gaben im Rahmen des deutschen Kinostarts, der am 16. September war, begeistert Interviews – wie richtige Stars eben.
Es ist nicht gerade üblich, dass ein dreieinhalbstündiger Dokumentarfilm sowohl beim Publikum wie bei der Fachwelt gut ankommt und international eine Kinoauswertung erfährt. Wie erklären Sie sich den Erfolg?
Reinhold Vorschneider: Ich glaube, dass es uns gelungen ist, trotz des wenig spektakulären Themas einen Film zu machen, der Qualitäten von populärem Kino hat. Man kann sich mit den Figuren identifizieren. Der Film ist berührend und lustig zugleich. Und wir haben jetzt viele Zuschauer*innen erlebt, die sagten, der Film sei trotz seiner Länge kurzweilig und der hätte noch länger dauern können.
Maria Speth: Durch die zweifache Auszeichnung bei der diesjährigen Berlinale hat der Film natürlich schon mal eine Aufmerksamkeit bekommen, die bestimmt geholfen hat. Aber ich denke auch, dass er ein breites Publikum anspricht. «Herr Bachmann und seine Klasse» ist ein Film, den man sich gut mit der ganzen Familie anschauen kann.
Geri Krebs, arttv
Für die Schweizer Vorpremiere von «Herr Bachmann und seine Klasse» am Zurich Film Festival wurde Regisseurin Maria Speth von Reinhold Vorschneider begleitet, ihrem Kameramann und Partner. Die beiden arbeiten seit über 20 Jahren zusammen, seit Maria Speths erstem langen Kinofilm, dem Spielfilm, «In den Tag hinein» (2000). «Herr Bachmann und seine Klasse» ist Maria Speths fünfter Langfilm, international bekannt wurde die 1967 geborene Regisseurin 2007 mit ihrem Spielfilm «Madonnen», in welchem Sandra Hüller ihre erste Hauptrolle im Kino spielte.
Herr Bachmann und seine Klasse | Die Synopsis
Lehrer Bachmann und seine Klasse 6b. Eine Klasse von Zwölf- bis Vierzehnjährigen. Die Eingangsstufe einer Gesamtschule. Alle Leistungsstufen sind noch in einem Klassenverband vereint. Am Ende des Schuljahres erfolgt die Teilung in drei Schulzweige. Viele Schüler*innen stammen aus Familien mit einer Migrationsgeschichte aus insgesamt neun Ländern. Ein Konglomerat unterschiedlichster Kulturen als Folge einer globalisierten Welt. Die Schule macht den Kindern klar, was die Gesellschaft von ihnen erwartet: Leistung. Bei den Schüler*innen geht es darum, wie sie diese Herausforderung überstehen. Mit Stolz, Überheblichkeit, Angst oder dem Gefühl der Minderwertigkeit. Es geht um die Ausbildung ihrer Identität als einzelne Persönlichkeiten. Aber auch ihrer Genderrolle und ihrer nationalen oder kulturellen Zugehörigkeit. Im Hintergrund ‹grosse› Fragen. Was kann Schule unter diesen Bedingungen erreichen? Sind die Trennungslinien der Herkunft identisch mit denen der Leistungseinstufung? Kann die Schule beitragen, Ausgrenzung und Marginalisierung zu vermeiden? In diesem sozialen Umfeld arbeitet seit siebzehn Jahren ‹Herr› Bachmann als Klassenlehrer. Seine Art des Unterrichtens gibt auf diese Fragen sehr besondere Antworten. Er ist ein ehemaliger Revoluzzer, Aussteiger, Folksänger, Bildhauer. Für ihn ist das Wichtigste, jedem Kind zu vermitteln, dass es wertvoll ist, dass es jemand ist und nicht nichts. Jeder hat Fähigkeiten.
Text: DCM Film Distribution
Statement des Klassenlehrers
«Ich habe mich schon oft gefragt, wie mir das passiert ist, Lehrer zu werden. Ich glaube die Schüler der Georg Büchner Gesamtschule in Stadtallendorf haben mir unmissverständlich gezeigt, was für einen Lehrer sie haben wollen: einen der ihnen Äpfel und Müsli und Döner zu essen gibt, einen der mit ihnen Fussball spielt, Musik macht und malt und Geschichten erfindet und schreibt, einen der mit ihnen liest, wie die Welt so aussieht und was es zu entdecken gibt, einen den sie fragen können, was immer sie wollen, aber vor allem einen, der sie nicht abwertet mit Noten, Defiziten… Sie wollen einen Lehrer, der auch gerne in die Schule kommt, mit dem sie lachen und singen und schreien können, einen der ihnen auch mal sagt, wo es lang geht, wenn die Fäuste geflogen sind und wenn Schwule oder Behinderte beschimpft werden. Im Kern ist es also eine ganz normale Beziehung zwischen Kindern oder Jugendlichen und einem Erwachsenen im Spiegel von: ich trau dir das zu, das machst du besser nicht, hier geht es auf keinen Fall lang, aber ich vertraue dir, ich weiss du hast es drauf, ich find dich gut.» Dieter Bachmann, der Klassenlehrer
Herr Bachmann und seine Klasse | Stimmen
«Regisseurin Maria Speth und Kameramann Reinhold Vorschneider zeigen, dass Bildung nicht nur wichtig ist, sondern ein spektakulärer Vorgang sein kann – und setzen diesen so wunderbar in Szene, dass der Film selbst fast etwas Heldenhaftes bekommt.» – Berlinale | «In ihrer ausufernden Dokumentation ‹Herr Bachmann und seine Klasse› porträtiert Maria Speth einen ungewöhnlichen Lehrer, der mit seinem ganz besonderen Umgang mit Schüler*innen im Alleingang so ziemlich jedes Klischees über deutsche Pädagogen widerlegt.» – Michael Meyns, Filmstarts.de | «Dieser Film verwandelt einen Klassenraum in eine Weltbühne, macht die Schüler*innen zu Stars auch ihres eigenen Lebens. Man fühlt, leidet und lacht.» – ZEIT.de