Manöverkritik | 74. Internationales Filmfestival Locarno
- Publiziert am 15. August 2021
Der neue künstlerische Leiter des Locarno Film Festival hat Mut!
Giona A. Nazzaro hat dem neben Berlin, Cannes und Venedig unbestreitbar wichtigsten europäischen Film-Event eine kräftige Verjüngungskur verpasst. Nicht mehr das höchst artifizielle, künstlerisch ausgetüftelte, oft von vielen Zuschauer*innen kaum zu entschlüsselnde Kopf-Kino dominierte die Filmauswahl. Stattdessen: Leichtigkeit und Lust an Genrefilmen, Action allem vorneweg. Wobei er dem Autoren-Kino, dem Locarno seit Jahrzehnten die schönste Tribüne bietet, treu geblieben ist.
Die Preisträger*innen:
Concorso internazionale
Bester Film
SEPERTI DENDAM, RINDU HARUS DIBAYAR TUNTAS (VENGEANCE IS MINE, ALL OTHERS PAY CASH)
Regie: Edwin | Indonesien, Singapur und Deutschland
Beste Regie
Abel Ferrara for ZEROS AND ONES
Deutschland, UK und USA
Beste Hauptdarstellerin
Anastasiya Krasovskaya in GERDA
Regie: Natalya Kudryashova | Russia
Beste Hauptdarsteller
Mohamed Mellali and Valero Escolar in SIS DIES CORRENTS (THE ODD-JOB MEN)
Regie: Neus Ballús | Spanien
Special Mentions
SOUL OF A BEAST
Regie: Lorenz Merz | Switzerland
ESPÍRITU SAGRADO
Regie: Chema García Ibarra | Spanien, Frankreich und Türkei
Concorso Cineasti del presente
Bester Film | Concorso Cineasti del presente
BROTHERHOOD
Regie: Francesco Montagner | Tschechine und Italien
Bester Nachwuchsregisseur | Auszeichung der Stadt und der Region Locarno
Hleb Papou für IL LEGIONARIO | Italien und Frankreich
Besonderer Jury Preis Ciné+
L’ÉTÉ L’ÉTERNITÉ
Regie: Émilie Aussel | Frankreich
Beste Hauptdarstellerin | Concorso Cineasti del presente
Saskia Rosendahl in NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN
Regie: Sabrina Sarabi | Deutschland
Bester Hauptdarsteller | Concorso Cineasti del presente
Gia Agumava in WET SAND
Regie: Elene Naveriani | Schweiz und Georgien
*Pardi di domani *
Pardino d’oro Swiss Life | Beste*r Autor*in Kurzfilm
CRIATURA (CREATURE)
Regie: María Silvia Esteve | Argentinien und Schweiz
Concorso nazionale
Pardino d’oro Swiss Life Bester Schweizer Kurzfilm
CHUTE (STRANGERS)
Regie: Nora Longatti | Schweiz
Pardino d’argento Swiss Life im Nationalen Wettbewerb
AFTER A ROOM
Regie: Naomi Pacifique | Niederlande, Schweiz und UK
Beste Schweizer Newcomer*in
Flavio Luca Marano und Jumana Issa für ES MUSS (IT MUST) | Schweiz
Von Peter Claus, Berlin
Keine Angst vor Netflix und Co.
Mutig auch: Locarno hat, anders als etwa Cannes, keine Angst vor den Streaming-Diensten. Die Eröffnung der 74. Ausgabe des Locarno-Festivals mit dem noch vor Festivalende auf Netflix gestarteten Polit-Thriller «Becket» ist eine deutliche Anerkennung der Streaming-Dienste als ernst zu nehmende Verleiher. Freilich tut sich in diesem Zusammenhang gleich ein Wunsch auf: Räumt den Internet-Giganten nicht das Feld! Denn das würde letztlich weltweit das Aus für viele engagierte Produzenten und Verleiher des klassischen Kinos bedeuten. Es wäre gut, mit Netflix und Co. darüber zu verhandeln, die Festivalfilme vor dem Start im World Wide Web zumindest für einige Zeit in die Kinos zu bringen. Bei «Roma», dem Venedig-Gewinner von 2018, hat das gut funktioniert.
Pro und Contra
Die Umorientierung vor allem des Hauptwettbewerbs, des «Concorso internazionale», Richtung Publikumswirksamkeit hat nicht nur Zuspruch erhalten. Hartgesottene Arthouse-Anhänger sehen darin geradezu ein Sakrileg. Dabei ist es doch das A und O des Kinos, sehr viel leichter und schneller als andere Künste, grosse Massen erreichen zu können. Und Giona A. Nazzaro hat Recht, wenn er darauf aus ist, das grosse Publikum nicht allein auf die Piazza Grande, sondern auch in den Wettbewerb und in die Vorführungen der anderen Sektionen ziehen zu wollen. Couragiert stemmt er sich dabei gegen die Arroganz manch Abgehobener. So hat er beispielsweise im Hauptwettbewerb, in dem 17 Filme um den Hauptpreis kämpften, gleich mehrere geistreiche Komödien gezeigt. Es ist nicht übertrieben, das als kleine Revolution zu feiern, denn Komödien führen auf Festivals in der Regel leider ein Schattendasein. Dabei, Nazzaro hat es in diesem Jahr mit seiner Auswahl bewiesen, können gerade sie sperrige und schwierige Themen transportieren und viele Leute zum Nachdenken anregen. Und genau das haben die verschiedenen Jurys mit den meisten ihrer Preise gewürdigt.
Finanziell kein Gewinn
Das schönste Locarno-Bild auch in diesem Jahr: Hunderte Filmfans, die trotz starken Regens eine der abendlichen Freiluftaufführungen auf der Piazza Grande besucht haben. Insgesamt erreichten die Zuschauerzahlen erwartungsgemäss etwa das Niveau der Hälfte voriger Jahre. Die Zahl der akkreditierten Journalisten aus aller Welt lag, einschliesslich der Online-Anmeldungen, bei etwa 90 Prozent. Das war eine erfreuliche Überraschung. Keine Überraschung: Finanziell dürfte das Festival am Ende Verluste verbuchen müssen. Der Etat von rund 19 Millionen Schweizer Franken hört sich enorm hoch an, ist aber bei Lichte besehen mindestens als knapp zu bewerten. Hier dürften die deutlich geringeren Einnahmen durch den freien Kartenverkauf erheblich zu Buche schlagen. Was das Festival vorab einkalkuliert hat: Es wurde an vielen Ecken und Enden gespart. Als Festivalbesucher hat man das allerdings kaum gespürt.
Corona-Management
Entsprechend den Regeln gab es viele Vorschriften. Richtig so. Nur: deren Einhaltung wurde nicht konsequent genug befolgt. Bei den täglichen Pressevorführungen im Teatro Kursaal beispielsweise gab es bedauerlicherweise einige Journalisten, die sich auf andere als die vorab gebuchten Plätze gesetzt habe. Was eine Nachverfolgung, wegen der die Vorabbuchung eingeführt wurde, im hoffentlich nicht eintretenden Fall einer oder mehrerer Covid-Erkrankungen unmöglich machen würde. Kontrolliert oder gar korrigiert hat das niemand, obwohl es reichlich Einlass- und Aufsichtspersonal gab. Auch wenn jemand die obligatorische Maske nicht oder nur halb aufsetzte, gab es zu häufig kein Eingreifen. Das muss, sollten das Festival auch im nächsten Jahr Pandemie-Regeln beachten müssen, geändert werden!
Technik-Falle
Der Festival-App kann allenfalls ein «mangelhaft» bescheinigt werden. Buchen, Stornieren, Bilder laden und vieles mehr erwies sich bei nahezu jedem Versuch als Abenteuer. Und das hatte nicht immer ein Happy End. Mal funktionierte die App, dann wieder streikte sie. Das per e-mail und Telefon erreichbare booking-Team hatte viel zu tun, um verzweifelten App-Usern zu helfen. Doch weil oft zu viele Leute gleichzeitig Hilfe brauchten, konnte das wirklich fleissige und freundliche Team gelegentlich nicht immer schnell genug reagieren, so dass mancher Film-Fan diese oder jene Vorstellung versäumt hat, weil kein rechtzeitiges Erwerben eines Tickets möglich war. Die App sollte für die Zukunft grundsätzlich vereinfacht werden. Der derzeitige Dschungel an Links und Kategorien ist einfach zu unübersichtlich.
Preise: Action-Thriller und schmuddelige Sex-Szenen
Die Jury hat die Intentionen der Neuausrichtung des Festivals mit den meisten ihrer Preise unterstützt. Der Goldene Leopard für den besten Film im «Concorsi internazionale», dem Hauptwettbewerb, ging an «Vengeance is mine, all others pay cash» («Die Rache ist mein, alle anderen zahlen bar» des indonesischen Regisseurs Edwin, bekannt geworden 2012 durch «Die Nacht der Giuraffe». Sein neuer Film begeistert als Action-Thriller, Lovestory und als Auseinandersetzung mit Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter. Diese Ehrung fand den einhelligen Beifall von Zuschauern und Kritikern. Die Auszeichnung des US-Amerikaners Abel Ferrara als bester Regisseur erntete hingegen weithin Verwunderung. «Zeros and Ones» stiess in Locarno weitgehend auf Ablehnung. Denn der Thriller um Attentatspläne gegen den Vatikan bietet kaum mehr als ein krudes Sammelsurium von Brutalitäten und schmuddeligen Sex-Szenen. Wollte sich die Jury vor dem 70-jährigen, der vor dreissig Jahren Bemerkenswertes wie «King of New York» und «Bad Lieutenant» gedreht hat, noch einmal verbeugen? Durchweg Beifall hingegen bekam den Spezialpreis der Jury: «A new old play» des chinesischen bildenden Künstlers und Regisseurs Qiu Jiongjiong. Auch ein Historiengemälde. Ein alter Schauspieler und Clown, der von den Boten des Todes ins Jenseits geholt wird, erinnert sein Leben. Der Film besticht mit einer so verblüffenden wie originellen Form: durchweg wird in Theaterkulissen agiert, nie wird es naturalistisch. Das Poem besticht insbesondere durch die facettenreiche Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die Künste, hier das Schauspiel, wirklich gesellschaftliche Relevanz haben.
Fazit
Locarno hat, was das Filmangebot angeht, eindrücklich seine Lebendigkeit bewiesen. Und der neue künstlerische Leiter hat kluge Zeichen für die Zukunft gesetzt. Jetzt heisst es: Nach dem Festival ist vor dem Festival. Die nächste, die 75., die Jubiläums-Ausgabe des Festivals in Locarno muss den neu eingeschlagenen Weg festigen.
Zur Person: Peter Claus arbeitet als freier Theater- und Filmkritiker für verschiedene öffentlich-rechtliche Hörfunkwellen und für Printmedien, überwiegend in Deutschland. Zudem arbeitet er in Berlin als Radio-Moderator der Kulturwelle des ard-Senders rbb, rbbKultur, in Berlin. Der Autor unserer Locarno Manöverkritik lebt in Berlin und in Düsseldorf. Das Filmfestival Locarno besucht er seit 1990 Jahr für Jahr.