Bäume sind Traumfänger im Wachzustand | Essay von Claudia Waldner
- Publiziert am 21. April 2020
Claudia Waldner, Kuratorin Kunsthaus Zofingen, über ihre Gefühle hinsichtlich einer Ausstellung, die fertig war und vorerst doch nicht zu sehen ist.
Am 4. April 2020 hätte die neue Ausstellung im Kunsthaus Zofingen eröffnet werden sollen. Doch infolge Corona kam alles anders. Das Kunsthaus liegt leer und still da. Die Fenster sind verdunkelt. Das Haus wartet darauf, einem Dornröschenschlaf gleich, irgendwann wieder geweckt zu werden. Gedanken einer Kuratorin zu einer Ausnahmesituation, stellvertretend für viele Andere.
Welt der Bäume
«Baumfänger» wird eine poetische Ausstellung werden, die uns die Welt der Bäume von den Wurzeln bis zu dem feinem Geäst der Baumkrone, bewusst und vertieft vor Augen führt. Über eineinhalb Jahre arbeiten nun schon einige der Künstler*innen für diese Ausstellung. Beat Breitenstein hat in seinem Waldatelier tausende Blätter vergoldet und Marianne Engel sich den fluoreszierenden Unterwelten und Wurzelwerken gewidmet. Victorine Müller hat sich in luftiger Höhe mit dem gesamten sich bewegenden Baum auseinandergesetzt und für das Künstlerduo Com&Com wurde eine langsame und akribische Wurzelausgrabung in Zofingen durchgeführt. Zu sehen ist das alles aber gegenwärtig nicht!
Lebendige Aufbauphase
Der Aufbau einer Ausstellung bildet immer den Höhepunkt kurz vor der Eröffnung. Hier bündeln sich Energie und Schaffensphasen. Die Künstler treffen auf das Aufbauteam und die Handwerker. Hier findet sich alles zusammen. Die Geschichten erhalten den Raum und den letzten Schliff. Ideen und Gedankenwelten verlassen den Kopf und werden in aktives Schaffen umgewandelt. Nichts wird mehr theoretisiert oder phantasiert, nun geht es ums Praktische. Das ist phantastisch, das kann ich Ihnen sagen. Als Kuratorin liebe ich diese Zeit, Sie können sich eine Aufbauphase immer als etwas sehr Lebendiges vorstellen.
Nun ist es still.
Mitten im Sprint – kurz vor dem Ziel, kurz vor der Generalprobe und der Premiere – gab es einen Unterbruch. Zack. Aus. Und nun? Bloss nicht einfach stehenbleiben. Das macht Herzrasen. Seitenstechen. Langsam auslaufen. Und dann wieder langsam Schwung holen für die letzte Etappe … Sonst kommt es nicht gut.
Der Aufbau zu Baumfänger wird weitergehen.
Im Hintergrund, nicht sichtbar, wird in den Ateliers, in den Homeoffices der Kunstschaffenden weitergearbeitet. Es gilt einen guten Rhythmus zu finden, um die Energie vom Aufbau nicht zu verlieren. Die Arbeit wird nun stetig weiterentwickelt, damit sie, später als geplant, aber mit derselben Energie aufgebaut werden kann. Vielleicht gewähren uns die Künstler*innen in den nächsten Wochen einen Blick in ihre Welt?
Warten auf Transformation
Zwei Mal wöchentlich gehe ich nun in das ruhige leere Haus an der General-Guisan Strasse und widme mich dem Wurzelstock von Com&Com, der im prunkvollen Saal darauf wartet an der Decke aufgehängt zu werden. Fast meditativ entferne ich sehr langsam und geduldig die Erdklümpchen, die noch am feinen Wurzelgeäst hängen.
Vor dem Haus Stille. Der sonst so lebendige und wunderbare Spielplatz gegenüber, den ich speziell wegen der lachenden Kindergeräusche so liebe. Still. Dann gehe ich auf den Dachstock, dort befindet sich die Krone des zur Wurzel gehörenden Baums. Und plötzlich bemerke ich, dass sie austreibt. Es bedarf nur wenig Lichts, das durch ein kleines Rundfenster hier auf den Dachstock dringt, damit diese Äste austreiben. Frisches leuchtendes Grün ziert die Tristheit und das, obwohl die Krone von der Wurzel getrennt wurde. Was für eine Kraft. Was für positives Zeichen.
Die Menschen sind leiser
Ich bin eine Baumfängerin. Mein Homeoffice fängt derzeit mit einem Spaziergang an. Morgens um 5 Uhr stehe ich auf und versuche dem Sonnenaufgang zuvor zu kommen. Mit Thermoskanne und Decke in der Umhängetasche, wo sonst Terminkalender und Handy wären, gehe ich langsam und gemütlich in den Wald, bis zu einer Lichtung. Dort gibt es einen Jägerstand. Um 6 Uhr sitze ich auf diesem Thron in der Baumkrone und lausche täglich dem schönsten Konzert. Die Vögel sagen sich Guten Morgen. Sie flirten und zwitschern dem Licht und dem Frühling entgegen. Die Natur zeigt stolz ihr Kleid zu dieser Jahreszeit, wie eh und je. Nur, wird es vielen vielleicht derzeit bewusster, als in normalen Zeiten. Die Menschen sind leiser. Frau, Mann und Kind bemerken plötzlich die anderen Geräusche, Stimmungen und Farben. Die Natur macht uns ein Geschenk.
Geduld und positive Gefühle
Baumfänger, der Ausstellungstitel, leitet sich von Traumfänger ab. Die Angst nehmen vor dem Unbegreiflichen. Vor einem Albtraum. Nun sind wir alle mittendrin in einem sonderbaren Albtraum, wenn es denn nur ein Traum wäre. Und die Bäume? Die Bäume stehen still fest verwurzelt, beruhigend, zuverlässig, wie Felsen in der Brandung.
Bäume sind Traumfänger im Wachzustand. Wenn ich den Bäumen beim Erblühen zuschaue und mir die Zeit nehme, um über die Wurzeln – unsere Wurzeln und den Sinn oder auch den Unsinn nachzudenken, dann gibt es wirklich Hoffnung und positive Gefühle. Das ist es, was wir alle nun brauchen: Geduld, positive Gefühle und vielleicht einen solchen Traumfänger.
Wenn diese Zeit vorüber ist, können wir gemeinsam, unter der Wurzel im Tanzsaal, sowie in die Klang-Videowelten und phantastischen fluoreszierenden Erdreiche eintauchen oder vor den goldenen leuchtenden Eichenblättern im Kunsthaus gebührend miteinander feiern.
Claudia Waldner, Kuratorin Kunsthaus Zofingen, Foto: Ramona Tollardo, 2019
Vorbereitung zum Ausstellungsaufbau Baumfänger, März 2020, Fotos: C.W