Hellvetia
Welchen Heimat- und Traditionsbegriff braucht die heutige Schweiz? Ein Stück, das man nicht verpassen sollte.
Heimat und Tradition sind Begriffe, die mit Geschichten gefüllt werden. Doch was leisten die Geschichten rund um Heidi und Globi für die heutige Schweiz und wie können wir den Heimat- und Traditionsbegriff bespielen, verunsichern und gestalten, damit er frisch bleibt? Das Theaterstück «Hellvetia» verbindet die Postkartenschweiz mit aktuellen Gesellschaftsrealitäten und rührt dabei an die Wiege unserer Zivilisation, an den Kampf zwischen Mensch und unbändiger Natur.
Die Story
Das Stück «Hellvetia» handelt von zwei Touristenführerinnen (Giorgina Hämmerli und Anja Rüegg), die das Alpleben in all seinen wunderschönen und romantischen Formen zeigen wollen. Doch die beiden vergessen, den traditionellen Alpsegen zu rufen und werden auf dem Berg verschüttet. In dieser Unendlichkeit, in dieser Zeitlosigkeit des Wartens und Abwartens passiert viel Albernes, viel Nachdenkliches, viel Befragendes und Hinterfragendes. Die beiden haben Zeit, viel Zeit, und diese nutzen sie für Spiele, um Geschichten zu erzählen, um sich auszutauschen und um zu philosophieren. Dabei bieten sie zahlreiche Figuren aus der Schweizer Sagenwelt auf, wobei sich der Reigen von Heidi über den Sennentuntsch bis hin zu Helvetia zieht, dieser geschichtslosen und gesichtslosen Landesmutter, die, wenn sie denn gehen könnte, gehen würde – die aber nur stehen oder sitzen kann. Zugleich richten die beiden Touristenführerinnen der «Swiss Mountains Love Company» den Blick auch immer wieder auf gegenwärtige Verhältnisse, auf den technologischen Wandel etwa oder auf das Verhältnis der Schweiz zur EU. Dadurch findet der Text von Elo Göldi und Livio Beyeler stets wieder zum Heimat- und Traditionsbegriff, der je nach Perspektive als tödlich oder als lebendig begriffen wird: als Beibehalten des Feuers – und nicht als Anbeten der Asche.
Recherche vor Ort
«Hellvetia» basiert auf einer umfassenden Recherche, die der Theaterregisseur und Konzeptkünstler Livio Beyeler im vergangenen Sommer bei Senni:innen auf Alpbetrieben in den Kantonen Glarus, Obwalden, Uri, Bern und Graubünden durchführte: «Wenn man Erzählungen über die Schweiz finden möchte, lohnt es sich, an diese romantisierten, an diese mit Geschichten verwobenen Orte zu gehen.» So kann laut Beyeler auf der Alp ein ganz neuer Umgang mit dem Heimat- und Traditionsbegriff erlernt werden: Der Städter erlebte einerseits idyllisches Alpenglühen, majestätische Steinadler und pfeifende Munggen, doch gleichzeitig stellt er fest, dass der Traditionsbegriff in Bezug auf die Arbeit «z’Alp» mittlerweile an vielen Orten ganz anders ausgefüllt wird als in der Überlieferung. Heutige Alpkäsereien gleichen nicht selten kleinen Labors, also hochtechnologisierten Produktionsstätten mit umfassenden Hygienekonzepten und weissgekachelten Wänden, die sich in einen weiten Kontext wirtschaftlicher Abhängigkeiten einreihen. Und auch die Natur ist doppelgesichtig, denn so gewaltig sie sich dem Auge präsentiert, so gewalttätig ist sie und unversöhnlich mit der Zivilisation, bis heute. Derartige Widersprüche sind für den künstlerischen Leiter von HELLVETIA elementar: «Schokolade, Schnee und putzige Kühe sind ein Teil der Schweiz und ihrer Geschichten, doch gibt es eben auch den Döner und den Primetower, Roche und Novartis oder den Gotthardtunnel und die Migrationsgeschichte».