Manöverkritik | Zurich Film Festival 2021
- Publiziert am 7. Oktober 2021
Das 17. Zurich Film Festival ist Geschichte. Zeit für eine Analyse
Die zweite Festivalausgabe unter der künstlerischen Leitung von Christkian Jungen und seine erste ohne – pandemiebedingt – angezogene Handbremse konnte stolz einen Publikumsaufmarsch vermelden, der jenem vor Corona entsprach. Trotz täglichem Traumwetter besuchten gut 100 000 Zuschauer*innen das Festival. Was das Staraufgebot betraf, war es fast wieder wie früher. Alles in allem, das ZFF wird immer besser.
ZFF-Karussell
Mit Sharon Stone, Paul Schrader und Todd Haynes war wieder jene US-Prominenz vertreten, die letztes Jahr einzig vom Überraschungsgast Johnny Depp repräsentiert worden war. Die Influencer*innen, Nachwuchsmodels und die einheimische Cervelatprominenz, die sich am und um den grünen Teppich und an den Partys tummelte, sorgte in den sozialen Medien auch dieses Jahr wiederholt für bissige Bemerkungen. Doch das war in der Ära von Karl Spoerri und Nadja Schildknecht nicht anders gewesen, ebenso die Klagen über miese Bezahlung von Chauffeuren und anderen Festivalmitarbeiter*innen oder die bisweilige Unbeholfenheit von Präsentator*innen oder Moderator*innen der Filmgespräche. Wenn man beispielsweise bei der Einführung zu Pablo Larrains Prinzessinnendrama «Spencer» die Info mit auf den Weg kriegte, Kristen Stewart werde schon jetzt als heisse Kandidatin für einen Oscar gehandelt, dann hatte sich das ZFF-Karussell wieder mal ganz schön gedreht. Denn, ach ja, wir erinnern uns, der «Twilight»-Star Stewart hatte 2019 am ZFF jenen Golden Eye Award bekommen, der jetzt Golden Icon Award heisst und der dieses Jahr an Sharon Stone ging.
Mehr Arthouse Kino
Es seien die Stars und der Glamour gewesen, die das ZFF gross und zu dem gemacht hätten, was es heute repräsentiere. Das hatte Christian Jungen zum Auftakt des letzjährigen ZFF erklärt und betont, auf dieser Basis werde er die Akzente ein wenig verschieben, hin zu mehr Arthouse Kino als unter seinen Vorgängern. Die Einladung an Paolo Sorrentino, der mit einer Retrospektive und einem Ehrenpreis für sein Gesamtwerk, einem «Goldenen Auge», geehrt wurde, kann man unter diesem Aspekt sehen. Und wie sehr ihm die Hommage an den Meister aus Neapel ein Herzensanliegen war, das konnte Christian Jungen an jenem Abend, als im ausverkauften grossen Corso-Saal die Gala Premiere von «E stata la mano de Dio» über die Bühne ging, in seiner Laudatio an Paolo Sorrentino eindrücklich und professionell vermitteln.
«E stata la mano de Dio» ist ein magisches, Poesie und Humor in beglückender Weise vereinendes Werk, ein wahres Feuerwerk barock ausufernder Ideen mit einem ans Herz gehenden, autobiografisch nicht nur angehauchten, sondern durchaus handfesten Plot, der, wie ein Kritikerkollege beim Hinausgehen verriet, ihn an einigen Stellen zum Weinen gebracht habe. Und es ist ein Film, der – neben unzähligen anderen bezaubernden Einfällen – mit einer der originellsten Szenen sexueller Initiation eines jungen Mannes durch eine viel ältere Frau aufwartet, die man je im Kino gesehen hat.
#LETSEXPLORE
Und Sex spielte ja bekanntlich an diesem 17. ZFF in vielen Filmen eine wichtige Rolle. Dies nicht nur in jener Reihe mit dem expliziten Titel #LETSEXPLORE, in der neben so handfesten Beiträgen wie etwa der ebenso gewagten wie grandiosen schwedischen Produktion über das Pornogeschäft, «Pleasure», oder dem grossartigen neuen Film von Altmeister Jacques Audiard «Les Olympiades», besonders der Beitrag «Death of a Virgin, and the Sin of Not Living» herausragte. Der ganz mit Laien realisierte Erstling des Regisseurs George Peter Barbari über ein Jungmännerquartett im krisengeschüttelten Libanon auf dem – wörtlich zu verstehenden – Weg zur sexuellen Initiation war als No-Budget-Projektion das vielleicht beste Beispiel des ganzen Festivals dafür, wie aus dem Nichts grosses Kino entstehen kann. Und das ist doch vielleicht der beste Contrapunkt zu den ganzen Sternchen, Influencer*innen, Models, Cüplis und Promis, die seit Anbeginn zur DNA des Festivals gehören. Immerhin, unter der Leitung von Christian Jungen ist deutlich spürbar, wie beispielsweise auch an der Opening Party die Dichte an Filmkenner*innen, -liebhaber*innen und Branchenvertreter*innen deutlich zunimmt.
Seitenhieb Locarno
In seinem Abschlusscommuniqué rühmt sich das ZFF, dass es nun bereits zum zweiten aufeinander folgenden Mal das vom Publikumsaufmarsch her grösste Schweizer Filmfestival gewesen ist. Was natürlich auch ein Seitenhieb gegen den grössten Konkurrenten, dem Locarno Filmfestival war, das letztes Jahr nur in einer Bonsai-Version und dieses Jahr wegen Schutzmassnahmen mit reduzierter Kapazität der Säle stattgefunden und mit knapp 79 000 Eintritten nur etwa die Hälfte des Publikumsaufkommens der Jahre bis 2019 generiert hatte. Am ZFF gab es demgegenüber, abgesehen vom Covid-Zertifikat, keinerlei Beschränkungen. Und zugegebenermassen: das brachte es mit sich, dass man als Zuschauer gelegentlich ein mulmiges Gefühl bekam. Wenn man an einem der Wochenenden dicht gedrängt in einem der so engen Kinos wie Piccadilly oder Le Paris sass, setzte man sich nur schon angesichts der zum Abschneiden schlechten Luft gerne freiwillig eine Maske auf. Auch unabhängig von der Pandemie wäre eine Modernisierung samt leistungsfähigerer Lüftung und besserem Sitzkomfort in diesen Sälen wie auch in den kleineren des Kinos Corso mehr als nur eine Überlegung wert. Was Komfort und Eleganz betrifft, war man natürlich auf das neue Prunkstück, den renovierten Kongresshaussaal gespannt.
Neues Festivaljuwel: Kongresshaus
Die neue Spielstätte Kongresshaussaal hat ihe Feuertaufe bestens bestanden. Alles in allem katapultiert die neue Spielstätte das ZFF hinsichtlich Attraktivität in neue Sphären. Zwar gab es am Abend, da der «Filmpalast» (Christian Jungen) seinen Betrieb aufnahm, zu Beginn der Projektion von Florian Gallenbergers bittersüsser Beziehungskomödie «Es ist nur eine Phase, Hase», technische Probleme. Doch diese wurden vom Präsentator mit Geschick und Charme weggelächelt, verstärkt noch dadurch, dass sich der Film mit seinen messerscharfen Dialogen und seinem klugen Plot als grosse Überraschung unter den spärlichen Weltpremieren im «Gala»- Programm darstellte – ganz im Gegensatz zum nachfolgenden grottenschlechten Sportfilm «Klammer». Versöhnt wurde man danach durch den grossartigen Ausblick von der Kongresshaus-Terrasse auf das nächtliche Seebecken. Hier hat das Festival in der Tat viel gewonnen und man fragt sich nur, warum eigentlich eine sechsspurige Beinahe-Autobahn den Weg zum See abschneiden muss. Vielleicht wäre für die Zukunft hier oder auch am Bellevue eine Unter- oder Überführung keine schlechte Idee.
Als weiteren positiven Effekt der neuen Spielstätte liess sich eine Entspannung bezüglich ausverkaufter Vorstellungen konstatieren. Ganz im Gegensatz zu früheren Jahren waren noch zu jeder Vorstellung Billette erhältlich, wohl eine Folge der erweiterten Kapazitäten.
Bond Bond Bond
Die Ausnahme bildete hier einzig der Bond-Film und das Theater, das der Verleih für die Pressevisionierungen veranstaltete (nur gegen Voranmeldung und Verpflichtung zu Verschwiegenheit etc.). Über die Abschiedsvorstellung von Daniel Craig ist seither ja bereits so viel geschrieben worden, dass sich hier eine Würdigung erübrigt. Nur so viel: Dass der gute alte Bond jetzt neuerdings – über sein Kerngeschäfts von Bum, Bum, Bang, Bang hinaus – jetzt auch noch sensibler Familienmensch und Frauenversteher geworden ist, muss man erst einmal verdauen.
Faszinosum Musikfilmwettbewerb
Einzigartig am Zurich Film Festival ist der Musikfilmwettbewerb, der in der Tonhalle über die Bühne ging. Der Anlass hat schon fast etwas Erhabenes und es ist für das Publikum äusserst attraktiv, wenn drei mal der gleiche Kurzfilm mit einer anderen Filmmusik gezeigt wird. Bei den drei Versionen handelt es sich um die Finalisten, die aus einer Vielzahl von Eingaben aus aller Welt bestimmt werden. Die Verbindung von Kino und Musik ist eines der zentralen Alleinstellungsmerkmale des Zurich Film Festivals und dürfte bei der Konkurrenz noch zu viel Kopfzerbrechen führen.
Laien als Wettbewerbsgewinner
Hinsichtlich Wettbewerbsgewinner, fällt auf, dass dieses Jahr die Jurys des internationalen wie des Fokus-Wettbewerbs ein Flair für Spielfilme mit Laien hatten. «A Chiara», das stille Drama von ZFF-Habitué Jonas Carpignano um ein Mädchen mit Mafia-Vater, bestach zwar durch seine formale Geschlossenheit dank «nachtfiebrigen» Bildern, aber als den besten Film des internationalen Wettbewerbs zu ehren, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Das gibt auch für den Gewinner des Fokus Wettbewerbs, «La Mif» des Genfer Regisseurs Fred Baillif. Sein dokumentarisch anmutendes Drama um Insassinnen eines Mädchenheims, gespielt von Laiendarstellerinnen mit einschlägigen Erfahrungen, glänzte zwar zu Beginn mit erfrischender Spiellust, verlor sich aber mit zunehmender Dauer in Geschichten von Missbrauch und Gewalterfahrungen, die leider arg klischiert daherkamen. Ein anderer Film aus der Westschweiz, «Momentum», der erstaunliche Erstling des jungen Jurassiers Edwin Charmillot, wäre hier der würdigere Preisträger gewesen, ging jedoch leider leer aus. Gleiches gilt beim internationalen Wettbewerb für «Noche de fuego», den überwältigenden ersten Spielfilm der Mexikanerin Tatiana Huezo. In der gleichen grandiosen Ästhetik, der schon ihre Dokumentarfilme (darunter den Gewinnerfilm des Festivals Visions du Réel von 2011, «El lugar mas pequeño») kennzeichnete, erzählt sie in «Noche de fuego» von den Gewalterfahrungen eines Mädchens, das in seinem Heimatdorf zwischen die Fronten des Drogenkriegs gerät. Aber da bereits letztes Jahr ein Film einer Mexikanerin, Fernanda Valladez’ «Sin señas particulares», den Hauptpreis am ZFF gewonnen hatte war klar, dass Tatiana Huezo keine Chance hatte. Es bleibt zu hoffen, dass ihr grosser kleiner Film, der bis anhin keinen Kinoverleih hat, ebenso wie vor Jahresfrist «Sin señas particulares», wie dieser doch noch von einem findigen Kinoverleiher entdeckt und ins Kino gebracht wird.
Fazit
Christian Jungen verbindet geschickt die Traumfabrik Kino mit hochwertiger Kinokunst. Ohne das Zurich Film Festival wäre die Stadt Zürich um einen grandiosen Kulturanlass ärmer.
Text: Geri Krebs | Felix Schenker