72. Locarno Film Festival | Fredi Murer | Hau ab nach Moskau
«Wenn Sie solche Filme machen, müssen Sie sich ja nicht wundern»
Fredi Murer steht für den Schweizer Film, wie das Matterhorn für den Schweizer Tourismus und der Zürcher Paradeplatz für die Bankenwelt. Filmjournalist Geri Krebs hat Murer in dessen «Adlerhorst» in der Zürcher Altstadt getroffen und erfahren, was die Polizei dazu gemeint hat, als eines Nachts ein Pflasterstein mit einem Zettel und der Aufforderung ‘Hau ab nach Moskau!’ durch Murers Schlafzimmerfenster flog.
«Für mich ist die Filmerei eine abgeschlossene Sache. Eigentlich bin ich froh, dass ich seit über drei Jahren nichts mehr damit zu tun habe». Fredi Murer begrüsst den Gast an diesem heissen Sommertag in seinem Wohnatelier in der Zürcher Altstadt. Der bald Achtzigjährige wohnt seit 1986 hier, im 5. Stock des Grimmenturm, einem stattlichen mittelalterlichen Gebäude, das mit seinen 800 Jahren zu Zürichs ältesten gehört und, denkmalgeschützt, keinen Lift hat. «Mit zunehmendem Alter werde ich immer fitter», witzelt Murer – «gezwungenermassen, denn es passiert mir doch öfter, dass ich beim Einkauf die Hälfte vergesse und so den Weg hinunter und hinauf mehrmals machen muss.» Nein, trotz der Begrüssungsworte wirkt der Filmemacher – wie auf der Visitenkarte steht – alles andere als altersgriesgrämig. Vielmehr strahlt der 1940 in Beckenried/NW geborene Cineast Lebensfreude und eine gehörige Portion Schalk aus. Er habe, nachdem er über fünfzig Jahre lang Filme realisierte, endlich Musse für alles, was er zuvor vernachlässigte, sagt er. «Ich zeichne, schreibe, beteilige mich gelegentlich an szenischen Lesungen – und ich habe vor allem Zeit, um mit meinen Enkelinnen zu spielen, zu zaubern oder einen Hasenstall zu bauen», gibt er lächelnd zu verstehen. Und wird ernst, als er sagt, und zunehmend werde er angefragt wegen Nachrufen für verstorbene Weggefährten. Die bisher letzten beiden, Pio Corradi und Bruno Ganz, waren weltberühmt – und Murers Worte für die Verstorbenen in den Programmheften der Kinos Xenix (Zürich) und Kinok (St.Gallen) – die im April je eine umfangreiche Retrospektive zeigten – sind bewegend und persönlich, überragen, was man sonst in den Feuilletons über die zwei Ausnahmekünstler las.
Er mache das seinen Freunden und Hinterbliebenen zuliebe nicht ungern, und diese Anfragen seien ja auch ein Zeichen, dass man ihn, der sich ganz aus der Filmszene zurückgezogen habe («ich gehe auch an keine Festivals mehr») noch nicht ganz vergessen habe. «Aber natürlich frage ich mich bei der Nekrologschreiberei auch: wer ist wohl der nächste?» Darum müsse er ab und zu am Spiegel vorbeigehen, um sich zu vergewissern, ob da noch jemand vis à vis sei, scherzt er und fragt dann den Schreibenden, ob er jetzt auch noch etwas über seine Filme erzählen müsse.
«Meine geistige Heimat ist der Experimentalfilm“, erklärt er dann und erzählt, wie er mit 17 aus Altdorf/UR – wohin seine Eltern 1946 gezogen waren – ins grosse und fremde Zürich gekommen sei. Hier machte er, der zuvor in der Schule wegen seiner Legasthenie in den sprachlichen Fächern immer furchtbar Mühe hatte, an der damaligen «Kunsti» eine Ausbildung als wissenschaftlicher Zeichner. Später wechselte er in die Fotoklasse, weil er an der legendären Ausstellung «Der Film» 1960 im Kunstgewerbemuseum in den Filmen «Nanook of the North» und «Man of Aran» des Pioniers Robert J. Flaherty den Beschluss fasste, Filmemacher zu werden. Und andererseits war es sein dortiger Lehrer, Serge Stauffer, der den angehenden Filmer motivierte, ein Filmfestival in der belgischen Stadt Knokk le Zoutte zu besuchen, dem damaligen Mekka der Experimentalfilmer.
Murer startete daraufhin bald selber erste filmische Versuche mit surrealistischen Kurzfilmen und war dabei, als 1966 die Solothurner Filmtage gegründet wurden – mit einem vier Stunden dauernden Experimentalfilm. «Pazifik oder die Zufriedenen» hiess er, gedreht worden war er in jener ersten Zürcher WG, wo Murer damals lebte. «Ein abendfüllender und kinoleerender Film», habe die NZZ geschrieben, lacht Fredi Murer. Er sei in den folgenden Jahren an den Solothurner Filmtagen mit seinen verspielt-anarchistischen Filmen, die er teilweise mit später so bekannten Künstlern wie Urban Gwerder, Alex Sadkowski oder H.R. Giger realisierte, noch öfter angeeckt, erzählt Fredi Murer. Und spottet dann, in jenen Nach-68er-Jahren habe ein ernstzunehmender Film jeweils mit einem Zitat von Marx anfangen und mit einem von Lenin enden müssen. «Ideologie hat mich nie interessiert, ich wollte immer eigenständige, persönliche Filme machen», betont er. Eindrücklich bewies er das 1974 mit seinem ersten Kinodokumentarfilm mit dem rekordverdächtig langen Titel (s. Kasten). Ganz im Sinne seines Idols Flaherty näherte er sich hier mit ethnografischem Blick seinen Protagonisten – Urner Bergbauern – liess sie nur für sich selber sprechen. Und als er fünf Jahre danach mit seinem ersten Kinospielfilm «Grauzone» ein atmosphärisch dichtes Bild einer von Orientierungslosigkeit und Anpasserei geprägten Schweiz zeichnete, das viel von dem vorwegnahm, was kurz darauf zum Ausbruch der damaligen 1980er Jugendbewegung führte, musste er drastisch erfahren, wie ernst man ihn nahm: «’Grauzone’ lief in Zürich bereits im Kino, als eines Nachts ein Pflasterstein mit einem Zettel und der Aufforderung ‘Hau ab nach Moskau!’ durch mein Schlafzimmerfenster flog», erzählt Murer. Und als er tags darauf feststellen musste, dass an seinem parkierten Auto die Radmuttern entfernt waren, sei er dann doch zur Polizei gegangen, sagt er und fährt fort: «Die Polizisten fragten mich, ob ich Feinde habe, worauf ich antwortete, dass ich es mir nur mit meinem Film ‘Grauzone’ erklären könne». Die Polizisten hätten noch nie etwas von dem Film gehört, versprachen aber, sie würden ihn sich im Kino ansehen. Als Murer ein paar Tage später auf dem Posten vorgeladen wurde, empfingen ihn die Polizisten mit den Worten: «Wenn Sie solche Filme machen, müssen Sie sich ja nicht wundern».
Genau vier Jahrzehnte später wurde «Grauzone» nun für «Locarno 72» digital restauriert – und Festivaldirektorin Lili Hinstin sagt über den Film: «Murer beweist hier, dass er die unterschiedlichsten Formen der filmischen Darstellung beherrscht. Indem er die Formen vermischt, erreicht er jene berühmte brecht’sche Distanz, die den grössten Realismus überhaupt zulässt. Er stellt das Absurde, das Theater, die Komödie, den dokumentarischen Naturalismus und Charakterstudien in den Dienst einer Science fiction-Erzählung über die Zukunft der Schweiz. Doch sind sie in Wirklichkeit dazu da, ein satirisches Porträt der Gegenwart der Nation zu zeichnen. Die Gegenwart seines Landes, mit neuen, frischen Augen sehen, ohne vorgefasste Ideen, das ist Murers Methode, mit der er hier die Schweizer Realität mit unendlicher Neugier studiert.»
Text: Geri Krebs